Nicht-kapitalistische Vergangenheiten nutzen! Die indigenen Konzeptionen dürfen nicht dem Eurozentrismus zum Opfer fallen

Walter Mignolo

Die linksgerichteten Regierungen Lateinamerikas führten in den letzten Jahren einen Bruch mit der neoliberalen Politik herbei. Man sollte sich jedoch die Frage stellen, ob es zwischen den indigenen revolutionären Visionen und konkreten Projekten einerseits und den eher traditionellen linken AktivistInnen andererseits eine große Übereinstimmung gibt. Die indigene Vorstellung vom Gemeinschaftlichen weist nur oberflächlich große Ähnlichkeiten mit der linken Konzeption des Kollektiveigentums auf. Genauer betrachtet bestehen wesentliche Unterschiede. Werden diese Differenzen ausgeblendet, führt dies zu einer Fortsetzung der Gewalt und der Kolonialisierung, gegen die die indigenen Bewegungen gerade kämpfen.

Die sogenannte westliche Zivilisation wurde um 1500 erfunden. Es begann eine Bewegung mit zwei Stoßrichtungen: Zunächst wurde die Zeit kolonisiert und das europäische Mittelalter erfunden; mit dem atlantischen Handel begann schließlich die Kolonisierung des Raums: Neue und alte Welt wurden erfunden.

Die ersten Zivilisationen, die die Folgen der Formierung und Expansion der westlichen Zivilisation zu spüren bekamen, waren die Inka, Azteken und Maya. Ihre gemeinschaftlichen Systeme der sozialen Organisation wurden zerstört. In Bolivien und Ecuador versuchen heute indigene Völker, diese Form der sozialen Organisation wieder aufzubauen und auf neue Weise zu gestalten. Aus einer europäischen Perspektive scheint das Konzept des Gemeinschaftlichen der Idee des Sozialismus oder des Kommunismus zu ähneln. Dies ist jedoch nicht der Fall, denn Sozialismus und Kommunismus entstanden in Europa als Antwort auf den Liberalismus und den Kapitalismus.

In jüngster Zeit hat der aus dem Volk der Aymara stammende Soziologe Félix Patzi Paco mit seiner Untersuchung “Das gemeinschaftliche System als Alternative zum liberalen System” den Versuch gemacht, die Idee vom Gemeinschaftlichen wieder stark zu machen. (1) Patzi Paco war von 2006 und 2007 bolivianischer Bildungsminister.

Ein zentraler Aspekt der neuen bolivianischen Verfassung von 2009 ist die Proklamierung des bolivianischen Staates als “sozial einheitlicher Staat von plurinationaler und gemeinschaftlicher Rechtsform, ein freier, unabhängiger, souveräner, demokratischer, interkultureller und dezentralisierter Staat, der über Autonomien verfügt”.

Das Gemeinschaftliche ist nicht gleich Kollektiveigentum

In Reden von Evo Morales und der ehemaligen ecuadorianischen Kanzlerin Nina Pacari ist häufig der Begriff des Gemeinschaftlichen zu finden. Hier gilt es besonders genau zu differenzieren, denn das Gemeinschaftliche (Englisch: “communal”) ist nicht gleichbedeutend mit Kollektiveigentum oder Allmende (Englisch: “common” oder “commons”). Das Kollektiveigentum oder die Allmende dienen Teilen der europäischen Linken heute bei ihrer Neuausrichtung als Schlüsselkonzept. Das Gemeinschaftliche lässt sich jedoch nicht unter Kollektiveigentum, Kommune oder Kommunismus subsumieren.

Die “Latino-Linke”, angeführt von Criolla und Mestiza, also “weißen” BolivianerInnen, hat ihre Wurzeln im europäischen Denken, im Marxismus-Leninismus. Dass die Linke derzeit die indigenen Kämpfe “anerkennt” und mit deren ProtagonistInnen Allianzen eingeht, deutet allerdings darauf hin, dass sich die beiden Bewegungen annähern.

Aus indigener Perspektive ist jedoch nicht allein der Kapitalismus das Problem, sondern vielmehr der Okzidentalismus, wozu sowohl der Kapitalismus als auch der Marxismus zählen. Der indianische Führer Fausto Reynaga (1906-1994) bewunderte Karl Marx, hatte jedoch für die bolivianische Linke seiner Zeit nur Verachtung übrig. Reynaga war der Meinung, dass Marx die Bourgeoisie aus der Perspektive der Arbeiterklasse bekämpfte. Dazu habe er einen Klassenkampf gefordert, der innerhalb der westlichen Zivilisation stattfinden sollte. Die indigene Revolution wendet sich jedoch gegen die westliche Zivilisation als solche. Dies schließt die Linke ein, deren Ursprung im Westen zu finden ist.

Patzi Paco ist in Bolivien hingegen eine kontroverse Erscheinung. Er ist jedoch eine wichtige Stimme innerhalb des derzeitigen Prozesses für einen plurinationalen Staat. Viele Criollo- oder Mestizo-Intellektuelle haben den Verdacht, dass er eigentlich für einen hegemonialen Machtanspruch des Aymara-Volkes eintritt. Sie behaupten, dass das von ihm verfolgte Projekt gerade keinen plurinationalen Staat zum Ziel habe: Hauptziel sei, die Hegemonie der Weißen (Mestiza oder Criolla) rückgängig zu machen; doch ignoriere sein Projekt die vielen Völker, die derzeit bereits im bolivianischen Staat existierten.

Patzi Paco greift die zu indigenen Völkern durchgeführten wissenschaftlichen Studien an, weil sie ihre Untersuchungen jeweils auf eine gemeinsame Kultur oder auf eine Sprache oder ein Territorium beschränkten. Aus seiner Sicht wird jedoch der Kern der Organisation des Gemeinwesens meist entweder übergangen oder absichtlich ignoriert. Anders ausgedrückt: Das meiste, was wir über die Aymara und Quechua in Bolivien wissen, bezieht sich laut Patzi Paco auf deren “Kontext” oder auf deren “Ambiente” (Entorno) und weniger auf ihre sozioökonomische Organisation. Diese wesentliche Unterscheidung überträgt er auch auf die Nutzung von Identität durch Indigenistas (proindigene Nichtindigene) oder Indianistas (indigene Menschen, die eine identitäre Politik verfolgen). Beide operieren auf der Ebene des Entorno und nicht auf der Ebene der zwei grundlegenden Knotenpunkte des gemeinschaftlichen Systems – der wirtschaftlichen und politischen Organisation.

Patzi Paco stellt die Frage, wie man das Paradoxon auflösen kann, das entsteht, wenn einerseits die indigene Identität verleugnet und andererseits betont wird. Er schildert in diesem Zusammenhang Positionen von Indianistas und Indigenistas, die argumentieren, dass im Falle von verwestlichten indigenen Menschen nur eine geistige Revolution das Paradoxon auflösen könne. Patzi Paco sieht diese Vorstellung jedoch als utopisch an, da der Prozess aufgrund der die Völker beeinflussenden globalen Kultur und Information nicht mehr umgekehrt werden könne. Eine Umkehrung der Transformation des Entorno sei auch nicht notwendig.

Indigene Menschen können ohne Probleme Mobiltelefone benutzen oder Jeans tragen, genau wie weiße EuropäerInnen indigene Hüte oder Kleidung tragen können. US-amerikanische oder französische TouristInnen oder WissenschaftlerInnen, verändern nicht ihre Identität oder schwören in diesem Zusammenhang dem Kapitalismus ab, wenn sie nach einem Besuch in den Anden mit indigenen Utensilien im Gepäck nach Hause zurückkehren. Wieso sollten also indigene Menschen auf eine Weise indigen bleiben, die die westliche Welt von ihnen erwartet?

Und genau das steht bei der Errichtung eines plurinationalen Staates gegenwärtig auf dem Spiel. Es geht weniger um die Frage, wer welche Kleidung trägt oder wer mit Telefonen hantiert. Vielmehr steht die von Gegensätzen geprägte Koexistenz mehrerer grundlegender sozioökonomischer Organisationsformen im Vordergrund. Dies beinhaltet: eine von Mestiza oder Criolla ausgehende (liberale oder marxistische) westliche Vorstellung vom Staat; die Ayllus und Markas der Aymara und Quechua, die es sowohl auf dem Land als auch in den Städten gibt; andere indigene Organisationsformen im Tiefland; und verschiedene bäuerliche Organisationsformen, die weder liberal noch marxistisch oder von Indianistas geprägt sind.

Das Kapital nutzt das gemeinschaftliche System

Was versteht man nun aber genau unter einem Ayllu? Es ist eine Art erweiterte familiäre Gemeinschaft, eine gemeinsam agierende territorial dominante Gruppe (real oder imaginär), die kollektiv ein bestimmtes Land bearbeitet. Jeder Ayllu ist durch ein Territorium definiert, das ein ganzes Ökosystem umfasst – das Land ist dabei nur ein Bestandteil. Das Territorium selbst ist kein Privateigentum. Ja, es ist überhaupt kein Eigentum, sondern stellt die Heimat der Menschen dar, die auf und von diesem Land leben.

Wesentlich für Patzi Paco ist die Unterscheidung zwischen Kern und Entorno. Probleme entstehen für ihn lediglich, wenn das System, also sein Kern, durch die Einverleibung von Elementen betroffen wird, die aus anderen Systemen stammen. In einer Gesellschaft, in der das gemeinschaftliche System mit dem liberalen System und der Marktwirtschaft koexistiert, nutzen Firmenbesitzer das in den Anden geltende Prinzip der Gegenseitigkeit (das Marka-System), um die ArbeiterInnen bei niedrigen Löhnen länger arbeiten zu lassen. Das System kann auf den ersten Blick wie ein leibeigenes System erscheinen: Der eine bringt seine Arbeitskraft ein, der andere bietet dafür Unterkunft und Nahrung. Es basiert jedoch auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit: Wenn der eine dem anderen bei der Bestellung seines gemeinschaftlichen Landes (Allmende) geholfen hat, muss derjenige, der davon profitiert hat, als Gegenleistung auf der Allmende des jeweils anderen arbeiten.

Wenn es stimmt, dass alle gesellschaftlichen Organisationsformen aus einem Kern und aus einem Ambiente (Entorno) bestehen, kann man die staatliche multikulturelle Rhetorik von der “Einschließung” (Inklusion) als einen Versuch des bolivianischen Staates interpretieren, das Ambiente des Ayllu zu kooptieren, dabei jedoch dessen Kern zu ignorieren (oder aktiv auszuschließen).

Aber was genau ist das Gemeinschaftliche? Patzi Paco erwähnt die kollektiven Rechte an der Nutzung und Bewirtschaftung der Ressourcen. Außerdem spricht er vom Recht der Gruppen, Familien und Individuen, ihren Anteil am Ertrag der kollektiv produzierten Güter zu erhalten. Zudem stellt er klar, dass das Gemeinschaftliche zwar in den Agrargesellschaften der Anden seine Basis habe, dessen Eigenarten sich aber überlebt und an die zeitgenössischen Bedingungen angepasst hätten. Das gemeinschaftliche System sei offen für alle, ob indigen oder nicht, und auch für verschiedene Arten von Arbeit: In einem gemeinschaftlichen System verschwindet sowohl der Unterschied zwischen Eigentümer und lohnabhängigem Arbeiter als auch der zwischen Chef und Angestellten in administrativen Organisationen (beispielsweise Banken oder staatlichen Behörden).

Kritik des Okzidentalismus ist auch Kritik des Marxismus

Um die Tragweite dieses Vorschlages zu verstehen, müssen wir uns von der Vorstellung befreien, dass ein indigener Mensch immer auch gleichzeitig ein Bauer ist. Denn diese Vorstellung ist durch den Kolonialismus in unsere Köpfe eingepflanzt worden. Zudem hat die Idee vom Eigentum keinen Platz in der Vision einer Gesellschaft, die arbeiten will, um zu leben, und nicht leben, um zu arbeiten. In diesem Zusammenhang befürwortet Evo Morales auch die Vorstellung vom guten Leben, das als Alternative zum Konzept der Entwicklung propagiert wird.

Ein gemeinschaftliches System als Alternative zum heutigen (neo-)liberalen ist aus den Erinnerungen und Erfahrungen der Gemeinschaften in den Anden geboren worden. Dieses Konzept verfügt auch über eine globale Dimension. Das bedeutet allerdings nicht, dass das Ayllu-System wie die in der Vergangenheit propagierten Modelle (seien sie nun christlich, liberal oder marxistisch) exportiert werden sollte. Es ist vielmehr eine Einladung, gemeinschaftliche Systeme in der ganzen Welt zu organisieren. Gemeint sind Systeme, die durch die Expansion der kapitalistischen Wirtschaft ausgelöscht und zerstört wurden, eine Expansion, die auch die europäische Linke nicht hat stoppen können.

Aus diesem Grund sollten die Thesen Patzi Pacos zum Gemeinschaftlichen in die Diskussion über einen plurinationalen Staat einfließen. Die Linke mit ihrer europäischen Genealogie des Denkens kann nicht das Monopol für sich beanspruchen, die Vision für eine nicht-kapitalistische Zukunft auszuformulieren. Es gibt viele nicht-kapitalistische Vergangenheiten, die genutzt werden können. Und es gibt viele Erfahrungen und Erinnerungen, die vielleicht gar nicht zivilisiert werden möchten, weder durch die Rechten noch durch die Linken. Dass die progressive Linke die Thesen Patzi Pacos ignoriert, könnte als Vorwand dienen, indigene FührerInnen und BauernführerInnen sowie deren Gemeinschaften daran zu hindern, in die Entkolonialisierung des derzeitigen monokulturellen Staates einzugreifen. Ein Staat, um den sich die weiße Rechte und Linke (Criolla und Mestiza) auch heute noch zanken.

Übersetzung: Edward Viesel

Aus: ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 549 / 16.4.2010

Der redaktionell gekürzte und bearbeitete Text erschien in Turbulence, Nr. 5 hier

Anmerkung:

1) Die Aymara leben wie die Quechua seit Jahrtausenden auf dem Altiplano (Hochebene) der Anden in Chile, Bolivien und Peru. In Bolivien gehören sie zu den größten indigenen Völkern und bestehen selbst wieder aus heterogenen Gemeinschaften.

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